Zwei Dinge bestimmen in unserem Sport das Wie und Warum. Trailrunning ist Distanz, Länge, Meter um Meter. Aber auch Höhe, Steiggeschwindigkeit und das Begreifen von irrsinnigen Höhenmetersummen. Eine Gegenüberstellung zweier Herangehensweisen. Vertikale vs. Horizontale!
Text: Benni Bublak; Fotos: Graeme Murray
Ach, waren das noch Zeiten. Als jeder still und leise seine Excel Tabellen ausgefüllt hat- oder gar kleine Lauftagebücher gefüllt hat- handschriftlich! Keine Kudos, Keine Kronen. Nur Nummern und Lettern, nüchtern aneinandergereiht, allenfalls ein „Beine heute müde“ als kurzer Kommentar hinzugesetzt. Heute gibt es Strava! Der digitale Phallus eines jeden Läufers. Strava schmerzt. Besonders am Ende des Jahres. Es ist der Zeitpunkt der Jahresrückblicke und des Zusammenzählens: „Willi Wade ist 2019 5000 Kilometer gelaufen!“ Wie bitte? 5000 Kilometer? Das sind knapp 14 Kilometer. Jeden Tag im Jahr. Wie macht Willi das? Ich beruhige mich damit, dass ich 50.000 Höhenmeter mehr habe als Willi. Denn schließlich sind es ja die Anzahl der Höhenmeter die einen richtige(n) Trailrunner*in ausmachen. Die Berge die man erklommen und überlaufen hat. Oder nicht? Ist es doch die Distanz und die Weite die uns erst als Läufer definiert? Uns Trailrunner von Kletterern und Berggehern abgrenzt? Ich bin verunsichert. Was antworten wir, wenn uns jemand nach unserem Jahresumfang fragt? Welche Dimension macht aus uns die komplettere(n) Trailrunner*in? Vertikale vs. Horizontale! Höhenmeter vs. Kilometer! Ich wage eine Gegenüberstellung.
Wir sind Läufer. Und als diese denken wir in Distanzen. Wir laufen 10er, Marathons, 100er und 100 Meiler. Sicher, beim Trailrunning erwähnen wir auch die Höhenmeter. Aber niemand würde sagen: „Dieses Jahr will ich meinen ersten 3000 Höhenmeter Lauf laufen.“ Und niemand würde auf die Idee kommen an eine logische Runde noch ein Schleifchen dranzuhängen, damit der Lauf genau 5000 Höhenmeter hat. Und dennoch glaube ich, dass die Vertikale im Trailrunning eine ebenso hohe Relevanz hat wie die der Horizontale. Ein mathematisches Beispiel: Der amerikanische Spitzenläufer Jim Walmsley gilt als außergewöhnlich schnell im Flachen, aber auch bei Ultratrails mit vielen Höhenmetern können ihm nur wenige das Wasser reichen. Den UTMB lief er in gut 20 Stunden. In jenem Jahr 2017 war der UTMB leicht verkürzt und umfasste ungefähr 100 Meilen und 9500 Höhenmeter (ein gängiges Distanz/Höhenmeter Verhältnis für einen alpinen Ultratrail). Leider hat Jim Walmsley keine aktuelle Bestzeit für einen flachen 100 Meiler. Aber bei seinem Potential nehme ich an, dass er im Bereich des Weltrekords (11:19h) laufen könnte. Gehen wir einmal von 11:30h aus. Walmsley braucht also für die gleiche Distanz 8,5 Stunden mehr, weil sie mit 9500 Höhenmetern gespickt ist. Oder anders gesagt: Knapp 43 % seiner Laufzeit gehen auf Kosten der Höhenmeter (den Faktor Gelände vernachlässigen wir hier). Und der Mann ist ein Ausnahme- Profiathlet. Höchstwahrscheinlich ist der Faktor bei Normalsterblichen deutlich höher als 43%. Während wir Höhenmeter bewältigen, legen wir natürlich auch horizontale Distanz zurück. Es ist wohl nicht vermessen zu behaupten, dass Läufer bei alpinen Ultratrails wie dem UTMB sich zu 90% ihrer Wettkampfzeit entweder im Auf- oder Abstieg befinden. Ihr seht: Die sehr hohe Relevanz der Höhenmeter ist nicht zu leugnen. Wir müssen sie trainieren und ja es macht durchaus Sinn mal für eine Trainingswoche zu sagen: Die Kilometer sind mir egal, ich will diese Woche die 5000 Höhenmeter Grenze knacken.
Ganz wichtig dabei: Vergesst die Pace-Anzeige auf eurer Uhr! Sie wird euch unsagbar langsam vorkommen. Das ist normal. Im wechelnd steilen Gelände hilft sie euch sowieso nicht weiter. Wenn ihr unbedingt eure Geschwindigkeit wissen wollt, müsst ihr der Vertikalen auch die entsprechende Bedeutung zugestehen. Kilometer pro Zeit ist irrelevant. Höhenmeter pro Zeit ist es was wir brauchen. Heutzutage ist jede Uhr in der Lage Euch diesen Wert anzugeben. Nur ihn einzuordnen fällt uns schwer. Eine kleine Interpretationshilfe: Der Weltrekord im Vertical Kilometer liegt bei knapp 30 Minuten. Die Spitzenathleten sind also in der Lage über eine kurze Zeit eine Vertikalgeschwindigkeit von ca. 33 hm/min oder 2000 hm/h zu erzielen, aber auch nur wenn die Steigung sehr steil ist. Eine Steiggeschwindigkeit von ca. 1000 hm/h wird bei Ultratrails mit moderaten Steigungen von den Topathleten erreicht. 400hm/h ist im Vergleich die ungefähre Steiggeschwindigkeit die der Alpenverein für einen durchschnittlichen Wanderer angibt. Alles unter der Prämisse das Gelände ist einfach und stellt uns nicht zusätzliche Hindernisse in den Weg. Wie verhält es sich beim Downhill? Anders als beim Uphill gilt hier nicht: Umso höher das Gefälle, umso schneller die Fallgeschwindigkeit. Denn wird das Gelände zu steil, nimmt uns das Abfangen der exzentrischen Kräfte stärker in Anspruch als uns der hohe Gefällegradient dienlich ist. Als ideale Steigung um eine möglischst schnelle Fallgeschwindigkeit zu erreichen, wird gemeinhin ein Gefälle von -26 % angenommen. Im Spitzenbereich wurden kurzzeitig Fallgeschwindigkeiten von bis zu -5000 hm/h erzielt. Grob -2000 hm/h schaffen die Spitzenathleten bei Ultratrails die mehrere lange An- und Abstiege aufweisen.
Dieser Abhandlung über die Eigenheiten und Wichtigkeit der Vertikalen folgend, erscheint die Lösung einfach: Die flachen Läufe streicht ihr komplett aus dem Trainingsplan und zählen sowie dokumentieren tut ihr ab jetzt eh nur noch die Höhenmeter. Bitte nicht! Genau diesen Fehler hat der Autor dieses Textes für Euch schon begangen. Nach meinem Umzug von der Großstadt in die Alpen, nahm ich an, ich hätte mich nun (gezwungenermaßen) lange genug in der Horizontalen aufgehalten. Unter anderem auch dem Umstand geschuldet, dass mir die vertikale Form der Fortbewegung am meisten Spaß bereitete, beschäftigte ich mich die folgenden drei Jahre vorrangig mit dem Höhenmeter sammeln- und verlernte dabei: den langen Schritt und die Explosivität der klassischen Laufbewegung. Auch muskuläre Probleme machten mir zu schaffen. Im Up- und Downhill wird die vordere Oberschenkelmuskulatur vergleichsweise stärker trainiert als die Oberschenkelrückseite. Die daraus resultierende Dysbalance führte bei mir zu Schmerzen in den Harmstrings.
Balance ist hier das Stichwort. Wie gern würde ich euch einen Gewinner präsentieren. Ein jede(r) Trailrunner*in wird ihn wahrscheinlich haben– den geheimen Liebling. Die Wahrheit aber ist: Erfolgsversprechend bleibt das Gleichgewicht zu wahren zwischen der Vertikalen und der Horizontalen. Und: Dieses Gleichgewicht anzupassen an Wettkampfziele, Trainingsbedingungen und , natürlich, dem persönlichen Spaßfaktor. Zählen und dokumentieren dürft ihr natürlich beides– die Höhenmeter und die Kilometer. Der nächste Strava-Jahresrückblick kommt schließlich eher als man denkt.