Training: Vom Suchen und Finden der Geschwindigkeit

Wie findet man eigentlich sein persönliches, perfektes Tempo?  Unser Trainingsexperte Michael Arend berichtet über die Kontrolle des Energieverbrauchs, das Minimieren eines Einbruchs, Laufen nach Gefühl und objektiven Werten und was von all dem bei einem Trailrunner am besten funktioniert.

Text: Michael Arend  Foto: Emily Maye

Perfektes Pacing ist, wenn man zu schnell angeht und es schafft hinten raus noch zu beschleunigen:

„Oh, yeah. It was nuts. It was probably one of the craziest races I’ve run. My mom didn’t want me to run stupid, and about two miles in it was like, Thiiiiiis might be stupid. “

So fasste Zach Miller die ersten 3km des NorthFace 50Miler 2016 zusammen. Am Ende senkte er den Streckenrekord und gewann mit zwei Minuten Vorsprung, nachdem er die letzten 5 Kilometer in 16 Minuten gelaufen war.

„Either this will be a hell of a race or an epic blow-up“, dachte er nach 5km. Es wurde eines der imposantesten Rennen des Jahres und ein Beispiel, wie sich die Trailszene in den letzten Jahren weiterentwickelt hat. Während es bis 2015 ein gewohntes Bild bei Ultras war, dass die Spitzenläufer harmonisch die ersten 80% des Rennens zusammen liefen, um danach erst mit dem eigentlichen Rennen zu beginnen, hat sich der Sport, zumindest unter den Eliteläufern, geändert. Wer sich nicht traut von Beginn an einen Einbruch oder gar ein DNF zu riskieren, der hat bei Läufen bis 100km keine Chance mehr auf einen Sieg. Doch laufen die aller Wenigsten von uns um einen Sieg mit und müssen dementsprechend auch nicht so viel riskieren. Anstatt also wie Zach Miller alles zu riskieren, lohnt es sich für alle anderen Athleten alles zu kontrollieren.

Pacing ist und bleibt, egal ob Profi oder Anfänger der Prozess, bei dem Läufer ihren Energieverbrauch so kontrollieren, dass eine Strecke in möglichst geringer Zeit zurückgelegt wird, während die Gefahr eines völligen Einbruchs versucht wird zu minimieren. 

Um genau dieses Ziel auch zu erreichen gibt es zahlreiche Mittel und Wege. Einteilen kann man diese grundsätzlich in zwei große Unterkategorien: Erstens, dem Pacen nach Gefühl und zweitens dem Pacen nach objektiven Werten. Beide Möglichkeiten unterscheiden sich erst einmal nur darin, ob man seinem eigenen Gefühl vertraut, oder eben nicht und deshalb lieber auf feste Werte zurückgreift. Das Laufen nach Gefühl muss jedoch, auch wenn dies ihm immer unterstellt wird, nicht gleich planloser sein, als das Laufen nach festen Werten, wie Tempo oder Puls. Ja, ok, bei Zach Miller ist es planlos, aber der Typ kann einfach so hart über sein Limit laufen, dass er auch etwas größere Fehler im Pacing mit einem Mehr an Leiden einfach ausbügelt. Das ist übrigens gar kein Scherz. Tatsächlich gibt es dazu eine Studie, die belegt, dass es einen Unterschied in der relativen Herzfrequenz zwischen Elite und Hobbyläufern bei gleicher Distanz gibt, die darin begründet liegt, dass die Elite sich mehr quälen kann und nicht damit, dass sie grundsätzlich aufgrund ihrer Ausdauer mit höherer Intensität laufen kann.

Pacen nach Gefühl ist trotz hohem Grad an Unsicherheit aber immer noch die meist angewandte Methode im Trailbereich und das mit gutem Grund. Jason Koop, der erfolgreichste Trailrunning Coach weltweit antwortete auf die Frage, welche offene Frage er am liebsten beantwortet hätte, dass er gerne wüsste, welche genauen Anforderungen welcher Traillauf wirklich hat. Während nämlich genau bekannt ist, wieviel Watt über welche Zeit welcher Radfahrer treten muss, um die Tour de France gewinnen zu können, sind die Anforderungen beim Trailrunning so vielfältig und schwer messbar, dass das Pacen nach objektiven Werten viel Erfahrung benötigt und immer ein bisschen Ratespiel bleibt. Jeder von uns hat jedoch mit seinem Gefühl ein inneres System, dem die Vorgänge im Körper prinzipiell vollständig bekannt sind.

Unser Körper ist dahingehend ein echtes Wunderwerk. Der Vorgang, der in unserem Körper dabei abläuft ist halb bewusst und halb unbewusst. Der bewusste Teil konzentriert sich im Wesentlichen auf die Abschätzung der noch bevorstehenden Gesamtanstrengung. Dies beinhaltet neben der Länge der Strecke natürlich auch die Schwierigkeit der Strecke, Verpflegung, Wetter usw. Umso bekannter diese Werte sind, desto genauer kann auch unser Körper einschätzen, ob wir zu schnell oder zu langsam sind. Übrigens ist die in späten Phasen eines Laufes oft genutzte Strategie der Mikroziele, z.B. die nächste Verpflegungsstation oder gar den nächsten Baum zu erreichen, der Versuch, eben genau dieses System zu überlisten. Wie essentiell es sein kann die bevorstehenden Anstrengung exakt einschätzen zu können, weiß jeder, der sich bereits am Gipfel sehnte, nur um festzustellen, dass hinter dem vermeintlichen Gipfel noch ein Gipfel kommt. Übrigens ist das am Kasernentor vorbei marschieren nach einem 50km Marsch immer noch eine oft praktizierte Technik bei Armeen, um die mentale Stärke der Soldaten zu trainieren. Hier wirken die gleichen Prinzipien.

Der unbewusste Teil des Gehirns ist dagegen deutlich unemotionaler. Inzwischen geht man tatsächlich davon aus, dass im unbewussten Teil dieses Pacings eine sehr gefühllose Rechnung abläuft, welche als wesentliche Variablen die verbleibende Zuckerkonzentration (Glykogen) im Muskel und im Blut (Glykose) hat. Anhand des bisher verbrauchten Zuckers wird der verbleibende Bedarf berechnet und dementsprechend Energie freigegeben oder eben, wie beim „Mann mit dem Hammer“ die Notbremse gezogen. Das macht auch Sinn, denn ohne Glucose kein Leben im Hirn und auch, wenn sich dies sich wohl so mancher Ultraläufer nach 100km wünschen würde, sieht das unser Gehirn als unpraktisch an. 

Werden andere Parameter, wie zum Beispiel die Körpertemperatur zum begrenzenden Faktor, ist das Gehirn natürlich flexibel und berechnet die „erlaubte“ Anstrengung danach. Immer jedoch bewahrt sich das Gehirn eine stille Reserve, welche wir nur in größter Not anzapfen können, der eine (Zach Miller) schafft es halt diese Reserve sehr klein zu halten, der andere noch nicht. Wie man das schafft zu trainieren? Das wüsste ich auch gerne.

 

 

 

 

 

 

 

 

Die 5 Techniken zur Tempofindung

Tempo

Tempo oder Pace sind bekanntlich auf dem Trail keine wirklich zuverlässigen Größen. Im alpinen Gelände können die Höhenmeter pro Stunde (hm/h oder VAM) bzw. pro Minute (hm/min) eine hilfreiche Größe sein. Diese Werte können direkt und recht zuverlässig auf modernen Sportuhren mit barometrischen Höhenmesser angezeigt werden, benötigen aber einige Analyse oder Erfahrungsarbeit im Training. Wer weiß schon aus dem Stehgreif, welche hm/h er bei welcher Steilheit wie lange schafft durchzuhalten? Unterschiedliche Steigungen beeinflussen nämlich dieses Wert entscheidend. Im Zusammenarbeit mit Zwischenzeiten können die hm/h jedoch dann helfen, wenn man weiß, dass man für die ersten 1000hm eine Stunde brauchen möchte.

Zwischenzeiten

Zwischenzeiten sind nahezu perfekt zum langfristigen Kontrollieren der Geschwindigkeit. Im Bestfall nutzt man eigene Zwischenzeiten aus Vorjahren oder man nimmt sich Zwischenzeiten aus Ergebnislisten oder von Websites wie Strava. So sieht man regelmäßig, ob man noch gut oder gar zu schnell unterwegs ist. Vorsicht aber, wenn in Vorjahren andere Bedingungen herrschten oder die Strecke sich vielleicht aufgrund des Wetters geändert hat. Außerdem helfen Zwischenzeiten nicht, um direkt die optimale Pace zu finden, bewahrt also nicht gänzlich vor zu schnellem Angehen.

Puls

Die vielseitigste und vielleicht sicherste Möglichkeit der Temposteuerung. Nach nur wenigen Minuten weiß man, wenn man zu schnell unterwegs ist und als subjektive Variable zeigt der Puls recht zuverlässig die Intensität an. Gerade in der ersten Stunde ist der Puls die beste Methode, danach führt der sogenannte Cardio-Vaskuläre-Drift (CVD) dazu, dass die Herzfrequenz bei intensiven Rennen oder warmen Bedingungen immer weiter ansteigt, bei sehr langen Rennen schafft es der Körper trotz höchster Anstrengungen nicht mehr die Leistung zu bringen wie zu Beginn, der Puls sinkt ab und wird unbrauchbar. Nur schneller zu laufen, nur weil der Puls einen zu niedrigen Wert anzeigt, halte ich aber auch zu Beginn für fahrlässig. Als Obergrenze, gerade in dem Bereich in dem die anaerobe Verbrennung stark zunimmt (unterhalb der anaeroben Schwelle) ist das Pacen mit Puls sehr sinnvoll. Dort können schon wenige Schläge Unterschied zwischen ökonomischer Fettverbrennung und dem Herausblasen wertvoller Kohlenhydrate entscheiden. Eine vorab sinnvoll gesetzte Pulsobergrenze schützt vor sehr dummen Entscheidungen.

Watt

Was Tempo im Gelände nicht leisten kann, können Wattmesser liefern, nämlich objektive Leistungsangaben trotz schwierigem Gelände. Dies erfordert jedoch einige Übung und gerade Bergab ist Watt so unsinnig wie der Puls. Es gilt übrigens grundsätzlich, dass meistens zu langsam bergab und zu schnell bergauf gelaufen wird. In verschiedensten Studien zeigte sich die Entscheidung bergauf Kräfte zu sparen, bergab so schnell zu laufen, wie es Muskeln zu lassen und im Flachen Tempo „zu machen“, als die Methode der Wahl. Der Versuch also sowohl Puls, als auch Watt im Laufe des Rennens konstant zu halten sollte das Ziel sein, auch wenn dies nicht gänzlich möglich ist. Im Vergleich zum Puls reagiert ein Wattmesser sofort, dies hat sicher Vorteile, aber führt auch zu hektischen Ausschlägen, weswegen ich mindestens eine Glättung der Werte über drei Sekunden empfehle.

RPE 

RPE steht für „Rate of perceived Exertion“ oder Grad der empfundenen Anstrengungen. Die Skale geht traditionellerweise von 6 bis 20 (Borg Skala), oder einfacher und moderner von 1 bis 10.

In kurzen Rennen oder im Training ist die Steuerung nach RPE, z.B. laufe 20min in einer Intensität von 5/10 sehr erfolgreich. In langen Rennen ist dies jedoch schwer. Die RPE steigt nämlich ähnlich wie die Herzfrequenz im Verlauf des Rennens stark an. Während das gleiche Tempo zu Beginn noch eine 4/10 ist, ist es nach 80km vielleicht nicht mal mehr stehend möglich auf eine 4/10 herunter zu kommen. Findige Wissenschaftler haben stattdessen den sogenannten Hazard-Score eingeführt und die RPE mit dem verbleibenden Anteil der Strecke multipliziert. Sie kamen zum Ergebnis, dass die RPE recht linear und kontinuierlich über das Rennen ansteigt. Die RPE ist demnach nicht viel mehr als das, was der Körper sowieso macht, nämlich ein Abgleichen zwischen bereits erbrachter und noch zu erwarteter Anstrengung. Wer also mit einer 5/10 gestartet ist und in der Hälfte des Rennens bei einer 7/10 ist, der weiß, dass er gut dabei ist. Eine 8/10 dagegen wäre eher kritisch, weil hochgerechnet eben eine 11/10 durchaus zu einem „epic blow-up“ führen könnte. Genau aus diesem Grund findet bei Ultras statistisch ein Tempoeinbruch meist gegen Mitte des Rennens statt. Eben deswegen, weil gut einschätzbar ist, was bereits geleistet wurde und was noch zu leisten ist.

Was ist also mein Ratschlag? In erster Linie seinen Körper kennen und bewusst verschiedene Intensitäten trainieren. Zweitens sich eine Höchstgrenze geben, die man in der ersten Hälfte nicht überschreitet, diese kann durch Watt, Herzfrequenz oder Zwischenzeiten gebildet werden. Ansonsten gilt, sich zu Beginn immer wieder vor Augen halten, welche Strecke man noch absolvieren muss, das beugt Übermut vor und führt zu einer eher konservativen Herangehensweise. Zum Schluss dagegen sollte man Gegenteiliges machen, nämlich nur in kurzen Ziele denken, damit der Körper bereit ist seine stille Reserven etwas frei zu geben. Ansonsten gilt es durchzukämpfen wie Zach Miller:  I think by Tennessee Valley, I pushed that climb going up hard and then bombed downhill, and it hurt like crazy. I got to Tennessee Valley probably a minute ahead of him (Hayden Hawks), but with three miles to go at the top of the last climb, I probably had a minute or less. Then I just… I just had to go!