Leserbericht: Ultrapremiere im Chiemgau

CHIEMGAUER 100
von Simon Spindler

Mein Name ist Simon. Eigentlich bin ich ein Novize in Sachen Ultralaufen. Das Trailrunning bzw. das schnelle Bergsteigen betreibe ich allerdings schon seit Kindheitstagen an. Seit ungefähr 27 Jahren also. Aber eben sehr wenig im Wettkampfbereich. Da ich aus Rosenheim, unweit von Ruhpolding stamme, war es mir klar für die Premiere auf einer 100km-Distanz, den sehr familiären und naturnahen Chiemgauer100 zu wählen. Die Trainingsbedingungen waren aufgrund meiner derzeitigen Wahlheimat Franken und fränkische Schweiz, eher bescheiden – insbesondere in Bezug auf lange Anstiege. Zwei Wochen vor dem Start am 29.07.2017 entschied ich mich meine Gedanken und Erfahrungen in meinem Blog „SimonRuns“ (smnrns.wordpress.de) festzuhalten. Beim Chiemgauer100 handelt es sich um einen Bergultralauf, der hauptsächlich über Forststraßen und Singletrails führt. Es gibt zwei Streckenlängen zu denen man sich anmelden kann – 100 Meilen (ca. 7500 Hm) oder 100km (ca. 4500 Hm). Im Folgenden beschreibe ich dieses Erlebnis, wie ich es subjektiv erlebt habe.

MASOCHISMUS, DER (MÄNNLICH, SUBSTANTIV)

„Als Masochismus wird bezeichnet, wenn ein Mensch (oftmals sexuelle) Lust oder Befriedigung dadurch erlebt, dass ihm Schmerzen zugefügt werden“ (Quelle: Wikipedia).

Mein Start beim Ultra-Trail-Wettkampf „Chiemgauer100“ über die 100km Distanz, garniert mit 4500 negativen, als auch positiven Höhenmetern liegt nun beinahe 5 Tage zurück. Bis auf einen blauen Zeh und einen Kapselanriss im Daumengelenk spüre ich gar nichts mehr und habe richtig Lust wieder rauszugehen, die Laufschuhe zu schnüren und über meine Strecken vor der Haustür zu rennen. Allerdings rät mir die Vernunft dazu, die Regeneration noch etwas auszudehnen.
Achja… was hatte der Lauf mit Masochismus zu tun? Sicherlich eine Menge, wie sich im folgenden Bericht noch herausstellen wird. Tatsächlich hatte ich auch Schmerzen. Aber die knapp 13,5 Stunden, die ich unterwegs war, überwog die Freude und Lust am Laufen. Es war herrlich. Nahezu befriedigend. Ein Hammer-Tag, eine tolle Veranstaltung, Helferinnen und Helfer der Extraklasse! Schon mal vorweg: Ich komme wieder, vielleicht nicht gleich nächstes Jahr, aber definitiv irgendwann. Nun aber der Reihe nach.

FREITAG, 28.07.2017
Am Tag vor dem Rennen fühlte ich eine ungewohnte Nervosität, die ich auf die große Vorfreude auf den Lauf, der für mich das Highlight des Jahres sein sollte, zurückführte. Nachdem ich nach der Ankunft am Bahnhof Ruhpolding 20 Minuten zum Stadion zurücklegte begann meine Einstimmung auf den morgigen Tag.
Am Stadion angekommen, holte ich meine Startunterlagen ab. Das familiäre Flair und das gemütliche Beisammensein waren sehr angenehm. Hoffentlich verliert diese Veranstaltung niemals diesen Charme. Von der Atmosphäre her kann ich mir beim besten Willen keine bessere Laufveranstaltung vorstellen. Aber das ist meine subjektive Meinung. Hier gibt es keine Preisgelder, keine laute Musik, kein Tamtam. Das Laufen in der Natur ist wichtig und durch die Hilfe der Veranstalter soll dies möglichst angenehm gestaltet werden. Die Berge sind hier sicher nicht nur Kulisse für irgendeinen riesigen Event, wo tolle neue Marken vorgestellt werden. Genau das scheint auch die Philosophie der Veranstaltung zu sein, wie es der Gründer der Idee des „Chiemgauer100“ Gi auch beim Streckenbriefing formulierte.
Nach Streckenbriefing und Pastaparty machte ich mich auf den Weg ins sogenannte „Läuferquartier“, dass mir durch Gi vermittelt wurde. Ein herrlich gelegener Bauernhof mit Mehrbett-Zimmern und Frühstück um vier Uhr früh! Da ich Semmeln vor dem Laufen nicht so vertrage, vertraute ich auf Polenta mit Preiselbeeren zum Frühstück. Die Nacht war unruhig, obwohl mein Bettnachbar Michael sensationell ruhig schlief. Vielen Dank dafür an dieser Stelle! Es war wohl wieder mehr die Vorfreude.

SAMSTAG, 29.07.2017
Um 3 Uhr klingelte mein Wecker und ich machte mich ans Frühstücken. Danach legte ich mich nochmal eine Stunde hin und döste. Im Anschluss daran machten wir uns auf zum Start. Ich war sehr dankbar, dass ich von einer sehr, sehr netten Läuferin, deren Name ich leider nicht mehr weiß, mitgenommen wurde. Danke.
Pünktlich um 5:00 Uhr früh fiel der Startschuss. Nein. Kein Schuss. Der Veranstalter Gi zählte ruhig die letzten 10 Sekunden runter – unaufgeregt, aber atmosphärisch toll. Das Feld setzte sich angenehm in Bewegung. Ich hatte mir vorgenommen die ersten 20 Minuten ruhig einzurollen, da ich generell dazu tendiere zu schnell loszurennen. Das funktionierte gut. Einige wenige hatten Stirnlampen dabei. Ich versuchte mich die ersten Minuten, die es im Wald an der Traun entlang ging an ihnen zu orientieren. Nach 20 Minuten wechselte ich von langsam in ein schnelles Wohlfühltempo. Die ersten 12 km sind gut laufbar, viele Forststraßen und haben nur wenige Höhenmeter. Ab Zwing führt der Weg, nach einer scharfen Rechtskurve steil bergan, um kurze Zeit später in einen wunderschön zu laufenden Singletrail mündete. Der machte mir so viel Spaß, dass ich bis zur Kaitlalm ordentlich Tempo machte, an der dortigen ersten Getränkestelle einen Schluck zu mir nahm und einen weiteren Höhenweg genoss. Dieser traf nach kurzer Zeit auf einen kurz und steil nach oben führenden Forstweg der bald gemächlich abfiel und somit den Downhill zurück ins Stadion einleitete. Auch dieser wurde bald zu einem toll laufbaren Singletrail. Die Strecke lud zum sehr schnellen Laufen ein. Ich nahm diese Einladung an und ballerte Richtung Traun-Fahrradweg, der dann Richtung Stadion hinausführte. Diesen Teil ließ ich wieder gemütlicher angehen. Die erste Schleife mit 26km beendete ich gegen 7:22 Uhr. Jetzt sollte es erst richtig losgehen.

VON RUHPOLDING AUF DIE HÖRNDLWAND
Nach einer kurzen Verpflegung nahm ich den ersten steilen Anstieg Richtung Unternbergsattel in Angriff. Nachdem die erste Runde extrem gut lief, merkte ich: „Oh, Oh. Bergauf warst du noch nie so schwach!“ Ich wusste nicht was bergauf mit mir los war. Naja egal. Dann halt massiv Tempo reduzieren und genießen. So früh sollte man sich bei so einem langen Lauf noch nicht quälen. Ab dem Unterbergsattel folgte nach einer kurzen Forststraße wieder ein herrlicher leicht abfallender Singletrail zur Branderalm, den ich gut hinter mich brachte. Dann folgte der steile und mittlerweile recht warme Aufstieg zur Hörndlwand durch das Ostertal. Jetzt war er da! Mein Tiefpunkt des Tages. Ich schleppte mich hoch und bediente mich bei der Verpflegung und genoss für einen Moment die Aussicht. Ich hatte extreme Lust auf was Salziges zu essen. Um das zu bekommen musste ich allerdings noch ein Stück weiter.

VON DER HÖRNDLWAND BIS NACH KOHLSTATT
Der Downhill ins Röthelmoos von der Hörndlwand gehört zu den technisch anspruchsvollsten Abschnitten der 100km Runde. Noch dazu waren die Wege durch den Dauerregen der vergangenen Tage aufgeweicht. Hatte ich bergauf heute einen sehr schlechten Tag, lief es bergab allerdings sensationell. Gefühlt flog ich den Berg hinab und kam nach einer guten halben Stunde beim Verpflegungsposten im Röthelmoos (km 42) an, wo ich sofort nach den Salzstangen griff. Dort waren auch drei 100-Meiler zu Gange, die schon am späten Freitagnachmittag zum Vorspann starteten. Respekt. Ziemlich abartig. Sie sagten mir, dass ich auf Platz zwei läge, was ich kaum glauben konnte, hatte ich mir doch nur vorgenommen gut durchzukommen. Plötzlich spürte ich eine enorme Motivation und dachte mir so: „Ok. Geht da vielleicht was?“ Wie an so vielen Verpflegungsposten veratschte ich mich mal wieder. Die Helferinnen und Helfer waren einfach zu gut und zu freundlich. Danke, Danke, Danke an dieser Stelle.
Nach dem Verpflegungsposten folgte eine nicht enden wollende, ansteigende Forststraße Richtung Jochbergalm, von wo aus es zum Hochsattel hochging.
Ab dem Hochsattel kam ein technischer, hangquerender Downhill. Danach ein steiler kurzer Aufstieg und wieder ein leicht abfallender Downhill zur Bischoffsfellnalm. Direkt an der Hütte passierte es. Irgendwie blieb ich mit dem Fuß hängen, flog aus vollem Tempo Kopf voraus Richtung Boden und konnte mich mit dem Daumen meiner rechten Hand an einem Felsen „abfedern“, was höllisch weh tat und eine Schwellung mit Kapselverletzung zur Folge hatte. 55km und knapp 2000 Höhenmeter wollten aber noch zurückgelegt werden. Ich sprang wieder auf die Beine, dachte an Kilian Jornet, der den Hardrock100 in den USA mit ausgekugelter Schulter als Sieger zu Ende brachte. Dieser Gedanke motivierte mich und ich setzte den Downhill zum Verpflegungsposten in Kohlstatt mit erhöhtem Tempo und vollem Risiko fort. Auch hier traf ich als zweiter ein und freute mich über großen familiären Beistand, was zu einem 10-minütigen Aufenthalt führte. Da fällt mir noch Amadeus ein, mit dem ich ganz oft Platz zwei und drei tauschte. Bergauf ließ er mich stehen, bergab zog ich wieder an ihm vorbei. Unsere Wege kreuzten sich nun schon seit mehr als 30km. Ein super Typ, mit dem ich beim Anstieg zum Unternbergsattel lange geratscht hatte.

VON KOHLSTATT NACH EGG
Nun folgten ca. 300 Höhenmeter eine alte Skipiste sehr sehr steil nach oben. Auch hier brauchte ich lang, bis es schließlich beinahe eben zur Mittelstation der Hochfellnbahn ging. Danach kam eine gut laufbare Forststraßen bis zum Verpflegungsposten Maria Eck bei km 65. Ein Moment gehört hier noch zu meinen Highlights. Auf einem im Wald liegenden Forstweg kommt mir plötzlich ein Mountainbiker entgegen. Es ist der Veranstalter Gi. Energiegeladen wirft er sein Bike auf die Strecke, holt den Fotoapparat hervor und schießt zwei, drei Fotos von mir. Der Mann brennt definitiv für seine Veranstaltung! Diese Situation wiederholte sich auf den nächsten Streckenabschnitten noch dreimal und zauberte mir immer wieder ein lang anhaltendes Lächeln ins Gesicht, dass die nun immer schwerer werdenden Beine kaum spürbar machte. Zusätzlich hatte ich auch nochmal familiäre Aufmunterung am Wegesrand.
Bei der Verpflegungsstation Maria Eck ruhte ich mich in der Mittagshitze wieder kurz aus und gab meinen zweiten Platz ab, was mir aber egal war, kam ich doch im Grunde, um durchzukommen. Hier nach 65km war ich zwar platt, fühlte mich aber trotzdem noch in der Lage die letzten 35km mit knapp 1300 Höhenmetern „runterzureissen“. Zur nächsten Verpflegungsstation nach Egg ist es nicht weit und eigentlich gut und schön laufbar. Auf einem schönen Höhenweg knapp über Ruhpolding. Ein kurzer Anstieg brachte mich zum Verpflegungsposten nach Egg, wo mich auch wieder ein Teil meiner Familie erwartete und aufmunterte. „So scheisse schaust ja noch gar nicht aus!“ 74 Kilometer waren geschafft. Hier gibt es die Option den Hochfelln auszulassen und auf 80km zu verkürzen. Ich verschwendete keine Sekunde an diesen Gedanken! Trotz meiner heutigen bergauf-Schwäche wollte ich die 100km-Premiere schaffen. Nach einer kurzen Rast begann ich mit dem Aufstieg.

VON EGG AUF DEN HOCHFELLN UND ZURÜCK NACH RUHPOLDING
Der Anstieg auf den Hochfelln beginnt sehr steil und ist zu Beginn eher einer der nicht ganz so schönen Abschnitte der Strecke. Dafür kurz. Bald geht er wieder über in einen wundervollen ganz leicht ansteigenden und gut laufbaren Singletrail. Bald erblickt man den Hochfelln-Gipfel mit seinem Haus und der Seilbahnstation. Nun steilt der Weg in drei bis vier langgezogenen Serpentinen auf. Der Anstieg fiel mir unglaublich schwer. Ein entgegenkommendes Pärchen riet mir dazu, nun nicht zu viele Körner zu verschießen, sondern langsam zu machen. Sie hatten den „Chiemgauer100“ schon (mehrfach?) in den vergangenen Jahren gemacht. Ich hielt mich an den Rat. Nichts desto trotz wechselte ich für die Zuschauer am Gipfel und den Fotografen nochmal kurz in den Laufschritt. 83 Kilometer waren geschafft.
Nach einer kurzen Rast mit Weißbier, meinem Bruder und seiner Freundin ging es auf einen letzten technischen Downhill ins Eschelmoos. Die Beine waren nun schon sehr schwer und ich war nicht mehr ganz so flott bergab unterwegs wie noch zu Beginn. Bald traf der Singletrail auf eine Forststraße und ich erreichte den Verpflegungsposten Eschelmoos. Dort sagten sie mir, es sind nur noch 15 km. Die Schwierigkeiten waren vorbei. Es folgten endlose Forststraßen hauptsächlich bergab, wobei noch drei bis vier kurze Gegenanstiege bis zum Stadion in Ruhpolding aufwarteten. Diese Eintönigkeit forderte die mentale Stärke. Durchhalten war nun angesagt. Oft verfiel ich in ein schnelles bis langsames Gehen, konnte mich aber immer wieder zum Laufen aufraffen.
Nach einem kurzen Abschnitt über Asphalt in Ruhpolding bog ich auf den Traundamm ein, beschleunigte nochmal und legte auf der Tartanbahn mit wiedermal grandioser familiärer Unterstützung meinen Endspurt hin. Ich war überglücklich und von meiner Zeit und meiner Platzierung sowas von überrascht. Der Hammer bei der Premiere über solch eine Distanz. Platz vier in 13:36 h. Wuhuuuuu.
Es war die beste und schönste Laufveranstaltung, an der ich je teilgenommen habe. Ich danke meiner Familie, insbesondere meiner Frau und meiner kleinen Tochter, für die Unterstützung, Gi für die Hammer-Veranstaltung und seinen ansteckenden Elan und den etlichen Helferinnen und Helfern, die an den Versorgungsposten alles gaben. Und das ehrenamtlich. Gratulation an alle Läufer, die diesen Lauf, egal auf welcher Strecke geschafft haben. Hier wird dir nichts geschenkt! Herzlichen Glückwunsch an die Jungs und Mädels, die es aufs Podest geschafft haben! Ganz starke Leistung. Ergebnisse könnt ihr euch bei Interesse auf der Homepage http://www.chiemgauer100.de anschauen.

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