Laufpsychologie: Der Winterblues

Unser Auto Dr. Thorsten Niecke hat, wie viele von uns, im Winter Schwierigkeiten sportmäßig am Ball, oder besser auf dem Trail, zu bleiben. Warum es sich aber gerade bei leicht depressiver Verstimmung lohnt  den Fuß vor die Tür zu setzen, erklärt er uns in diesem Archiv-Text.

Text: Thorsten Niecke Foto: Hans Herbig

Allgemein gilt die Vorstellung, ein Arzt hat Mittel und Wege, sich gesundheitlich gut einzurichten. Das mag ja für das eine oder andere Mal stimmen, leider nicht für den Winterblues. Jedes Jahr werde ich davon befallen. So wie bei Menschen mit Flugangst, denen schon bei der Flugbuchung übel wird, beginnt mein launiger Zustand mit der Umstellung der Uhren auf Winterzeit, steigert sich bis zur Wintersonnenwende um sich dann ganz langsam zu lösen. Täglich lese ich ab Januar wohlwollend im Kalender, wie die Tage immer um einige Minuten länger werden. Doch besonders gruselig sind diese Tage, die auch nach Sonnenaufgang kaum hell werden wollen. Grau, feucht-kalt und Temperaturen um 4 °C. Norddeutsches Schietwetter! Die können hier noch nicht mal Winter! Das Draußensein ist unattraktiv. Ein Dasein als Couch-Potato wird nachvollziehbar. Das Leben eines Homer Simpsons. Will ich das? NEIN, NIEMALS!

Etliche Trainingspläne empfehlen für die Wintermonate eine Trainingspause. Vielleicht ein reduziertes Wochenprogramm. Trailrunning geht auf allen Wegen und bei jedem Wetter. Außerdem überstehe ich mit dem Laufen diese Zeit besser und schneller. Es tröstet mich – viele andere Läufer berichten von der Mühe, den inneren Schweinehund zu besiegen. Wir müssen unsere Alltagskultur verlassen. Die Errungenschaften des warmen, weichen Bettes oder die Kultur eines guten Buches im bequemen Sessel begleitet von einem korrespondierenden Wein gegen einen Ausflug ins Unkultivierte eintauschen.

Bin ich erst einmal losgelaufen, werde ich in eine Gegenwelt transformiert. Ausgerüstet mit Stirnlampe und einer mehrschichtigen perfekten Laufkleidung starte ich am frühen Abend und totaler Dunkelheit auf mir gut bekannten Trails. Gelegentlich erblicke ich funkelnde Augenpaare, meist von Rehen, zwischen den Bäumen. In unserem Wald soll es längst Wölfe geben, aber ähnlich den gewöhnlichen Windscheinen scheinen sie mir aus dem Weg zu gehen. Das ist auch besser so. Für meine Freunde, denen ein einsamer Lauf durch den dunklen Wald zu tricky ist, mein Tipp: Formiert euch zu einer Laufgruppe! Ein lumenstarkes Lichtschwert am Kopf verschafft zusätzlich Übersicht. Meist sind die ersten Kilometer unrund, denn ich habe meinen Rhythmus noch nicht gefunden. Ich bin noch kalt, mein Atem fließt ungleichmäßig.

Leise, ganz leise, aber unaufhaltsam stellt sich ein Flow-Zustand ein. Der Läufer wird mit dem Lauf eins. Körper, Gehirn, Seele und Atmen schwingen sich auf den Rhythmus der Schritte ein. Intensives Erleben in der freien Natur auf natürlichen Wegen, der Frust über das Schietwetter löst sich, unverdaute Tagesprobleme werden zu warmer Luft aus dem Darm. Wunderbar. Da ist es wieder, mein individuelles Runner‘s High! Gibt es so etwas wirklich? Hört man sich in der Laufszene um, sind die Meinungen geteilt. Auch die Wissenschaft hat in den letzten Jahren viel Interessantes, aber auch viel Widersprüchliches hervorgebracht. Nach dem letzten Stand der Wissenschaft führen folgende Schritte zum Runner‘s High: mindestens 30 km straffes Laufen, dann die Intensität auf über 80% der VO2max steigern. Danach ist die Belastungsintensität leicht zurückzunehmen, zum Beispiel auf einem moderaten Downhill. Bislang vermutete die Wissenschaft Endorphine als glücksbringende Ursache. Nach neuesten Forschungen deutscher Wissenschaftler sind es aber Endocannabinoide. Für den User ist das aber letztendlich egal, Hauptsache high, und das legal und ohne nachweisbare Schäden. Oder? Wie ist das mit der Laufsucht? Auch hier ist sich die Wissenschaft uneins. Laufen tut gut. Sicherlich ist das Bedürfnis, schneller und weiter zu laufen, vergleichbar mit der Steigerung einer Dosierung. Auch die Missempfindungen, die sich einstellen können, wenn einem die „Droge“ entzogen wird, sprechen für eine Abhängigkeit. Ich kann diesen Argumenten nicht folgen. Erstens ist die Sichtweise falsch. Die Wissenschaft ist immer ein Teil der aktuellen Gesellschaft. Die gegenwärtige industrielle Gesellschaft ist geprägt von Bewegungsmangel und Übergewicht. Sitzen, besonders vor dem Computer, ist die häufigste Körperhaltung. Damit wird das Laufen und insbesondere das Trailrunning automatisch zu etwas Abartigem. Zweitens lehrt uns der Blick in die Vergangenheit eine andere Sicht. 100 bis 200 Wochenkilometer zurückzulegen war vor nicht allzu langer Zeit manchmal lebensnotwendig. Sicherlich gibt es überall Menschen, die crazy sind. Vom einem Waschzwang, einer Klaustrophobie bis hin zur Spiel- oder Laufsucht ist fast alles möglich. So wenig das Wasser mit dem Waschzwang zu tun hat, so wenig hat das Laufen mit der Laufsucht zu tun.

Ich habe reichlich wissenschaftliche Literatur zur Laufpsychologie gelesen. Wenig oder selten wird über das Danach geschrieben. Das ist aber gerade bei dem Schietwetter besonders intensiv. Die tiefe Zufriedenheit, der Appetit, die verdiente Müdigkeit runden das Erlebnis des Trailrunning ab und verleihen dem gemütlichen Heim einen extra Stern. Kurzgefasst sind Depressionen als Zustände der Starre, der Autoaggression und Stagnation zu verstehen. Laufen bewegt, es atmet, ist raumgreifend. Zum Laufen treten wir aus uns heraus. Das sind zwei Seelenwelten. In dem Moment, in dem ein depressiver Mensch die Lust des Laufens erlebt, ist er in eine andere Welt gewechselt. Der erste Schritt entscheidet.