Beschleunigte Blicke

8. Februar 2024 •

Was ich am Laufen so mag? Das Gucken. Den sich Schritt für Schritt veränderten Blick auf die Welt. Wenn ich laufe, sauge ich die Ästhetik des Alltags auf. Ich eigne mir Orte an, „bewohne“ selbst unwirtliche Gewerbegebiete. Über eine Strategie, der Welt da draußen Sinn und Ordnung zu geben.
Wo bin ich, wenn ich laufe? Meine GPS-Uhr wüsste das exakt. Und würde die denkbar langweiligste Antwort geben. Koordinaten, die doch nur als Standortbestimmung taugen. Was erzählt denn eine noch so konkrete Ortsangabe darüber, wo ich gerade bin?
   Darum nämlich geht es mir beim Laufen. Um ein Eintauchen, manchmal auch ein Untertauchen in der Welt. Um einen Dialog mit den Orten, ein Bespielen, manchmal auch Besetzen des Raums.
   Eine Sache, die mir anhand meiner Fotografien für meine Reisereportagen im Trail Magazin aufgefallen ist: Auch die meisten Motive, die auf den ersten Blick gar nichts mit dem Laufen zu tun haben, habe ich doch laufend, gewissermaßen beschleunigten Blickes entdeckt. Ich schaue anders, neugieriger und liebevoller in die Welt, wenn ich sie mir erlaufe.
   In seinem 1929 erschienenen Buch „Spazieren in Berlin“ schrieb der begeisterte Flaneur Franz Hessel: „Flanieren ist eine Art Lektüre der Stadt, wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Caféterrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Worte, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben.“
   Die Stadt und mithin die Landschaft lesen – darum geht es mir auf meinen Läufen. Ich tauche ein in die Tiefen und Untiefen eines Ortes, erschließe mir Milieus und Lebenswelten. Ich mache, was Franz Hessel sich wünschte: Ich bewohne die Stadt.
   Gerne denke ich da an eine Sightseeingrunde in Rom zurück. 4:15er-Schnitt auf der Busspur und es war auch der Thrill dieser Runde, der mich das Tempo halten ließ. Kolosseum, Petersdom, Trevi-Brunnen, Spanische Treppe. Viel prägnanter erinnere ich mich aber an das begleitende Rauschen dieses Runs. Die Ragazzi auf ihren Vespas, die Straßenstände mit den gefälschten Trikots der Serie A. Die vielen Kleinwagen, die davon erzählen, dass das Fahren und erst recht das Parken in Rom ein Vollkontaktsport ist. Oder mein Marathon in der früh am Morgen noch menschenleeren Altstadt von Venedig. Das Muster der Pflastersteine wurde zur Kartografie meines Laufs. Stufenzählen. Und irgendwann aufhören, die Stufen zu zählen.
   Oder Grönland, ein gutes Stück nördlich des Polarkreises. Eine karge Welt, in der die Siedlungen mit ihren bunten Holzhäusern schon deshalb von Sperrmüllhalden gerahmt werden, weil es viel zu teuer wäre, jeden Kühlschrank und jedes Autowrack über das Meer abzutransportieren. In der den Huskys einmal am Tag tote Robben zugeworfen werden. Und es im kurzen Sommer so sumpfig bleibt, dass man immer auf halber Höhe rennen muss, um nicht im Morast zu versinken. Laufend hat sich die Faszination dieser Landschaft erschlossen. Laufend konnte ich ihrer Unwirtlichkeit entfliehen. Was ich daraus gelernt haben: Für mich ist das Laufen auch eine Strategie der Selbstermächtigung. Wer läuft, ist Herr oder Frau seiner Wege.
 
Das Skateboard, auch das BMX-Rad, das waren in meiner Kindheit solche Traummaschinen einer subversiven Aneignung des öffentlichen Raums. Ich behaupte: Mindestens für mich haben die Trailschuhe ihren Platz eingenommen.
   Ganz in meinem Sinne fällt mir eine Studie der Sporthochschule Köln vor die Füße: Laufen macht schlau. Vor allem aber jene, die sich bei ihren Läufen treiben lassen, die keinem Trainingsplan folgen und keine allzu routinierten Runde. Wer einfach läuft, so die These der Sportwissenschaftler:innen, hat den Kopf frei für viel wichtigere Dinge. Etwa dafür, die korrespondierenden Grau- und Grüntöne einer alten Garagenanlage in Brandenburg an der Havel zu studieren. So ging es mir auf meinem jüngsten langen Lauf. Kirchmöser, ein historisches Industriequartier, wo sich die verschiedenen Epochen überlagern wie der Layerlook eines Trailläufers im regnerischen November.
 
Aber: Hat dieses listige Umherstreunen, als das ich meine Läufe durchaus bezeichnen würde, mit den gleichsam listigen Algorithmen der Sozialen Medien nicht auch einen neuen Twist bekommen? Die App merkt sich meine Routen. Sie folgt auf Schritt und Tritt.
 
Das Verlaufen jedenfalls, diese schöne, weil so zweckfreie Kunst, ist in Zeiten der Navigations-Apps noch einmal komplizierter geworden.
 
Ach ja, haben wir in diesem Text bereits von den Ultradistanzen gesprochen? Nun dann: In den Jahren 1801 und 1802 reiste der deutsche Dichter Johann Gottfried Seume vom sächsischen Grimma bis nach Syrakus auf Sizilien und legte weite Teile seiner 6000 Kilometer langen Reise zu Fuß zurück. „Ich bin der Meinung, dass alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge“, war er sich danach sicher.
 
Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.
von Clemens Niedenthal

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